Offener Brief des DFB-Präsidenten

Liebe Freunde des Fußballs,

von der Jugendauswahl bis zum Seniorenteam, vom Kreisliga-Klub bis zur Nationalmannschaft eint uns alle eine gemeinsame Leidenschaft: Die Liebe zum Fußball. Fast 26.000 Vereine mit rund 6,8 Millionen Mitgliedern sind im DFB organisiert, mehr als 160.000 Mannschaften treffen sich regelmäßig auf Deutschlands Fußballplätzen. Und das alles mit der Maßgabe, fair miteinander umzugehen, Werte und Spielregeln zu respektieren und sich vorbildlich zu verhalten. Umso fassungsloser machen uns alle die Nachrichten, die uns in den vergangenen Tagen aus der FIFA erreicht haben. Verhaftungen, Korruptionsvorwürfe, Ermittlungen – der internationale Fußball steckt in seiner schwersten Krise. All das, was unser wunderbares Spiel ausmacht, steht auf dem Spiel.

Ich wende mich in diesem offenen Brief an Sie, weil das Thema den gesamten Fußball angeht. Wir brauchen eine funktionierende Basis, um an der Spitze erfolgreich zu sein. Wir brauchen aber genauso eine respektierte, integre Fußballregierung an der Spitze, um jedem Ehrenamtlichen, jedem Spieler und jedem Fan glaubwürdig gegenübertreten zu können. Genauso wie jeden Amateurfußballer, der sich für seinen Sport einsetzt, schockieren mich die täglichen Meldungen, die auch ich aus den Medien über neue Korruptionshinweise erfahre. Mich machen die Hinweise auf persönliche Bereicherungen einiger Funktionäre genauso fassungslos wie jeden Vereinsvertreter an der Basis.

Bei aller Betroffenheit muss der Blick aber jetzt auch nach vorne gehen. Fußball ist ein wichtiger Teil unseres Lebens. Fußball ist Lebensfreude, Freundschaft, Gemeinschaft und Gesellschaft. All das dürfen und werden wir uns nicht kaputt machen lassen. Es ist längst überfällig, all diejenigen ins Abseits zu stellen, die sich nicht an die Spielregeln halten. Die FIFA braucht nicht nur einen schnellen personellen Wechsel an der Spitze. Sie braucht mehr Kontrolle, mehr Transparenz. Sie braucht Verlässlichkeit, Seriosität und Verbindlichkeit.

Ich bin nicht so naiv zu glauben, der DFB könnte jetzt alles reformieren. Es braucht internationale Allianzen und Mehrheiten, die nur schwer zu erreichen sind. Auch der größte Verband der FIFA hat nur eine Stimme, die nicht in jedem Teil der Welt Gehör findet. Aber wir sehen es als unsere Aufgabe an, diese Stimme zu erheben. Der DFB und ich als sein Präsident nehmen die Herausforderung an, in diesen Zeiten für den Verband, für jedes einzelne Mitglied, für unseren Fußball Verantwortung zu übernehmen. Wir wollen Reformen, wir wollen Veränderung. Und wir werden sie einfordern.

Ich habe das Amt im Exekutivkomitee der FIFA angenommen, weil wir unsere Ansätze und unsere Ideen für eine bessere FIFA nur auf diese Weise einbringen können. Zehn Punkte haben dabei in einem ersten Schritt für mich zentrale Bedeutung:

  1. Wechsel an der FIFA-Spitze:
    Ich halte es für dringend geboten, den Weg für Neuwahlen unter Berücksichtigung der FIFA-Statuten und Fristen schnellstmöglich freizumachen. Bei allem Respekt vor seiner Lebensleistung erweist Sepp Blatter sich und dem gesamten Fußball keinen Gefallen damit, seinen von ihm selbst angekündigten Rücktritt hinauszuzögern. Auf einem außerordentlichen Kongress muss deshalb zügig ein neuer Präsident gewählt werden, der für einen überzeugenden Neubeginn steht.
  2. Aufklärung der Korruptionsvorwürfe:
    Korruption darf im Fußball keinen Platz haben. Kriminelle Machenschaften müssen konsequent aufgedeckt und geahndet werden. Die FIFA muss in diesem allgemeinen Interesse vollumfänglich mit den ermittelnden Behörden zusammenarbeiten. Es muss jetzt gelingen, alle betrügerischen Sachverhalte vollständig juristisch zu bewerten. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit ist die Voraussetzung für neues Vertrauen in die Organisation.
  3. Etablierung eines Integritätschecks:
    In den wichtigsten Gremien des Weltfußballs dürfen nur absolut verlässliche Persönlichkeiten sitzen. Vor dem zurückliegenden FIFA-Kongress in Zürich wurden die Kandidaten bereits aufgefordert, eine Leumundserklärung abzugeben. Ich plädiere für die Etablierung eines weiter reichenden Integritätschecks, der durch eine unabhängige Organisation oder die Ethikkommission vor der Wahl in das Exekutivkomitee durchgeführt wird.
  4. Wahl der Exekutivmitglieder:
    Jeder Entscheidungsträger in den Gremien der FIFA trägt eine Gesamtverantwortung für die Organisation. In diesem Kontext sollte das Entsendungsprozedere von Vertretern aus den Konföderationen hinterfragt werden. Die Wahl der Exekutivmitglieder durch den Kongress (bisher läuft dies über die Kontinentalverbände) halte ich für den richtigen Schritt, da somit über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus eine direkte Verantwortung gegenüber der FIFA deutlich wird.
  5. Begrenzung der Amtszeiten:
    Um die Machtfülle einzelner Personen zu beschränken, bedarf es einer zeitlichen Begrenzung der Präsidentschaft und anderer wichtiger Funktionen. Für diese Begrenzung hatten die meisten europäischen Verbände beim Kongress 2014 in Sao Paulo gestimmt, waren aber unterlegen. Ich spreche mich dafür aus, die IOC-Regel mit maximal zwölf Jahren für den Präsidenten der FIFA zu übernehmen. Dadurch wird eine personelle Erneuerung in den wichtigsten Positionen gewährleistet.
  6. Transparenz bei WM-Vergaben:
    Die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft nach Russland und Katar wird durch die Schweizer Justiz überprüft. Für künftige Vergaben muss ein transparentes Verfahren entwickelt werden, dass sich eng an der technischen Bewertung orientiert und dadurch nachvollziehbar wird. Konkretes Beispiel bei der Evaluierung von Bewerbungen ist die EURO 2020, als Städte wie Tel Aviv, Sofia, Minsk oder Skopje für die Abstimmung gar nicht zugelassen wurden, weil sie technische Voraussetzungen nicht erfüllten. Hätte die FIFA dieses Verfahren angewandt, wäre Katar mit der technisch schwächsten Bewerbung erst gar nicht in die Abstimmung gekommen.
  7. Menschenrechte:
    Freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit, der Schutz von Minderheiten, Toleranz, Respekt – all das sind Werte, die jederzeit und während einer Weltmeisterschaft für alle Teilnehmer gelten müssen und für die sich der Fußball stark machen muss. Die Gewährleistung von Arbeitnehmerrechten und Sicherheitsstandards durch das Bewerberland muss deshalb schon im Prozess der Ausschreibung berücksichtigt werden und für die kommende Vergabe der WM 2026 gelten. Unabhängig davon bleibt es Aufgabe des Fußballs, auf die Einhaltung der Menschenrechte bei den bereits vergebenen Turnieren zu drängen.
  8. Kontrolle der Geldflüsse:
    Die FIFA fördert viele Projekte in der Welt und bewirkt damit viel Gutes. Umso wichtiger ist es, dass die Mittel zur Förderung des Breitenfußballs oder zur Umsetzung von gesellschaftlichen Projekten an den richtigen Stellen ankommen. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, dass sich Einzelne nicht auf Kosten des Fußballs skrupellos persönlich bereichern. Um das zu verhindern, sind noch stärkere Kontrollen der Geldflüsse notwendig, damit diese Leistungen ausschließlich dem Fußball zugutekommen.
  9. Anpassung des Abstimmungssystems:
    Der Fußball muss jede Meinung respektieren und reflektieren. Im Rahmen einer umfassenden Reform der FIFA sollte allerdings geprüft werden, ob das aktuelle System “Ein Land, eine Stimme” im Dialog aller 209 Mitgliedsverbände der FIFA angepasst und weiterentwickelt werden kann. Vom Grundsatz her stehe ich für diese Form demokratischer Beteiligung, aber auch eine gewisse Stimmengewichtung anhand der Größe und der sportlichen Relevanz der Verbände halte ich für zielführend.
  10. Erarbeitung einer Reform-Agenda:
    Das Internationale Olympische Komitee hat mit der Agenda 2020 vorgemacht, dass eine große Organisation mit konsequenten Reformen den Weg aus der Krise finden und Glaubwürdigkeit zurückgewinnen kann. In diesem Bewusstsein muss auch die FIFA einschneidende Veränderungen auf den Weg bringen. Dabei spreche ich mich klar dafür aus, dass dieses Reformpaket nicht mehr vom bisherigen FIFA-Präsidenten auf den Weg gebracht werden sollte. Ein außerordentlicher FIFA-Kongress muss den neuen Präsidenten mit einem Mandat für die Erstellung einer Reform-Agenda beauftragen und darin klare Ziel- und Zeitpunkte für einzelne Umsetzungsschritte vorgeben.

 

Liebe Freunde des Fußballs,

es ist traurig zu sehen, wie Gier und fehlende Moral einiger Weniger den gesamten Fußball unter einen Generalverdacht stellen, bis hin zu unserem wunderbaren “Sommermärchen”, für das sich so viele Menschen mit großem Idealismus eingesetzt haben. Wir haben bei unserer Bewerbung nicht mit unlauteren Methoden agiert, vielmehr bekam Deutschland nach acht Jahren akribischer Arbeit 2000 in einem sauberen Verfahren den Zuschlag und präsentierte sich 2006 der Welt als freundlicher, freundschaftlicher Gastgeber. Es sind diese schönen Erinnerungen und die besonderen Begegnungen, die den Fußball für uns alle zu einem wunderbaren Teil des Lebens machen, uns motivieren für neue Herausforderungen.

Genau diese Faszination und Emotionalität müssen wir bewahren. Der Fußball darf seine Leichtigkeit, seine Unbeschwertheit, seine Natürlichkeit, seine einzigartige Anziehungskraft nicht verlieren. Die zehn Punkte meines offenen Briefes haben nicht den Anspruch, die Lösung aller Probleme zu sein. Sie sind auch bei weitem kein umfassendes Reform-Paket. Aber sie sind ein sehr ernst gemeinter Anstoß, dem eine gemeinsame Bewegung folgen muss. Ein Vorstoß in der Hoffnung, dass sich dafür die notwendigen Allianzen und oftmals schwer zu bündelnden Mehrheiten finden.

Das Vertrauen in die FIFA wurde verspielt. Auch wenn der Prozess vermutlich lange dauern wird, muss dieses Vertrauen jetzt zurückgewonnen werden. Damit Misstrauen und Generalverdächtigungen schwinden. Damit Akzeptanz und Anerkennung zurückkehren. Damit die FIFA in Zukunft wieder für die Werte stehen kann, die uns der Fußball jeden Tag auf den kleinen und großen Plätzen vermittelt.

Mit herzlichen Grüßen

Nierbach

Wolfgang Niersbach
DFB-Präsident